Ein Grabstein für ein Jahrhundertschicksal

Bei einem zufälligen Treffen auf unserem Kirchfriedhof sprach mich Pfarrer Kühne allgemein auf die Grabsteine an. Er meinte, es wäre doch ein Gewinn für den Friedhof, wenn Grabsteine, die durch besondere Gestaltung, anderes Material oder interessante Inschriften von der üblichen Form abwichen, als Denkmal stehen blieben. Das Gespräch fand neben diesem Grabstein statt, der im Grunde genommen nur dadurch auffällt, dass er an seinem Sockel eine kleine, halbrunde Blumenschale trägt.

Gertrud Borchardts Leiterwagen - "Volkswagen" aller Vertriebenen und Flüchtlinge

Dieses Grabdenkmal erinnert mich an meine liebe Nachbarin, von der ich folgende Geschichte erzählen kann: Die hier 1991 beerdigte Frau Gertrud Borchardt lebte seit 1945 auf dem großen Grundstück in der Triftstraße Nr. 15/17, auf dem heute eine große Wohnanlage errichtet ist. Seit meiner Heirat 1961 lebe ich auf dem Nachbargrundstück. Meine Frau und ich wurden Eltern, die Töchter wuchsen heran und beschränkten sich in ihrem Bewegungsdrang nicht nur auf unseren Garten. Und da zur damaligen Zeit zwischen den Gärten nur noch Reste von Zäunen existierten, so auch in unserem Fall, besuchten sie auch sehr oft die „liebe Tante Borchardt“, waren dort offensichtlich sehr gern gesehen und wurden nicht wenig verwöhnt.
Unser Garten nun hatte von (zu) vielen Bäumen und Sträuchern beschattet zum Anbau von Obst und Gemüse mit der Zeit immer weniger geeignete freie Flächen. So bot uns die Nachbarin an, einige Beete in ihren Garten zu verlegen. Als dankbare Gegenleistung haben wir ihr Baumobst – sie hatte viele Zwetschen- und drei uralte, sehr hohe Birnenbäume – geerntet und zum Obstaufkauf gebracht. Außerdem mähte ich zwei Mal im Jahr mit der Sense ihren Garten. Auf einer freien Fläche standen oder besser gesagt lagen die Reste eines Leiterwagens. Ich habe mir keine Gedanken gemacht und drumherum gemäht. Die Jahre vergingen, der Rest wurde immer kleiner und dann eines Jahres von mir im hohen Gras übersehen. Kurz, das Sensenblatt fuhr hinein, traf offensichtlich auf einen Eisenbeschlag und ich durfte die Sense neu dengeln! Als ich einige Zeit später Frau Borchardt daraufhin ansprach und sagte, ich würde die Wagenreste gerne forträumen, antwortete sie sehr bestimmt, dass diese bis zu ihrem Lebensende dort verbleiben sollen. Kurze Zeit später hat sie uns dann folgende Geschichte diesen Leiterwagen betreffend erzählt:

Gertrud Borchardts Schicksal

Sie wurde 1903 in Schwetz, einer Kreisstadt an der Weichsel in Westpreußen geboren. Über ihre Jugend bis zum Ende des ersten Weltkriegs hat sie nichts erzählt. Die Gründe für ihre Flucht aus der Heimat nach dem ersten Weltkrieg sind wohl in repressiven Maßnahmen gegenüber der deutschen Bevölkerung zu suchen. Nach dem verlorenen ersten Weltkrieg aber wurde der größte Teil Westpreußens lt. Versailler Friedensvertrag an Polen abgetreten. Der deutsche Bevölkerungsanteil erhielt hierdurch automatisch die polnische Staats-bürgerschaft, konnte allerdings für die deutsche optieren. Tat er das aber, unterlag er häufig repressiven Maßnahmen, so wie es vor 1914 auch manchmal dem polnisch sprachigen Teil ergangen war. Aus diesem Grunde hat Frau Borchardt wohl 1921 mit dem Handwagen ihre Geburtsstadt verlassen und ist zu Fuß nach Schneidemühl in Pommern geflohen, wo sie eine neue Heimat fand. Ob sie dort Verwandte hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Im Jahre 1945 jedoch traf sie das gleiche Schicksal ein zweites Mal: Wieder war sie gezwungen, sich eine neue Heimat zu suchen. Über ihre Erlebnisse auf dieser Flucht hat sie nie gesprochen und wir haben auch nie gefragt. Jedenfalls ist sie irgendwann in diesem Jahr mit ihrer gesamten Habe auf dem Handwagen in Blankenburg bei Verwandten – ein kleines Glück in der großen Katastrophe - angekommen und der Wagen blieb dort, wo sie ihn entladen hatte, im Garten stehen.

Tränensaat erntet Lachen

Ihre Wohnung hatte sie jetzt in einem sogenannten Kätnerhaus: Gebaut um 1840, zwei große Stuben und eine große Küche, das Haus nicht unterkellert, der Fußboden und das Dach nicht gedämmt, die Wände aus Blankenburger Ziegelsteinen und die Fenster einfach verglast! Und im letzten Jahrhundert gab es noch Winter, z. T. mit zweistelligen Minusgraden, u. U. auch einige
Wochen lang: Wenn dann jemand sie besuchte, saß sie dick angezogen in ihren Räumen; die Temperatur betrug da gerade noch 10 Grad, obwohl der Ofen glühte. Wir wollten sie einmal überreden, sich im Wohnzimmer doppelt verglaste Fenster einsetzen zu lassen, aber das lehnte sie mit dem Hinweis ab, dass sie an diese Temperaturen seit ihrer Kindheit in ihrer Kalten Heimat gewöhnt sei. In den letzten Jahren ihres Lebens musste sie sich noch Sorgen um den Zustand ihres Daches machen: Die Ziegel waren alt und der Holzwurm tüchtig, man erkannte das schon an dem quer zum First wellenförmigen Erscheinungsbild der Dachfläche. Auch ein Teil der Scheune brach Ende der 80er Jahre zusammen. Letzten Endes hatte Frau Borchardt aber Glück, das Dach hielt bis zu ihrem Tode. Haus und Grundstück waren groß genug, um auch ihr, wie schon erwähnt, eine Wohnung und Gartenland zu bieten. Hier erlebten wir sie bis zu ihrem Tode als eine freundliche, bescheidene und jederzeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten hilfsbereite Nachbarin.
Im Sommerhalbjahr bei schönem Wetter saß sie oft, entweder mit ihrer Untermieterin oder einem von uns in ihrer Veranda, wie sie den kleinen hölzernen Wetterschutz vor dem Hauseingang nannte. Sie freute sich, wenn man vorbeikam, ein Wort anlegte und etwas Neues zu berichten wusste. Eine große Freude bereiteten ihr auch ihre beiden Nichten in Bremerhaven, die sie mehrmals einluden und ihr dann in vollen vier Wochen mit einem großen Wohnwagen die westdeutschen Lande und einige Male auch etwas von den Nachbarländern zeigten. Am 15. August, ihrem Geburtstag, hat sie darüber immer berichtet. In Vorbereitung dieses Tages mähte ich in ihrem Garten eine kreisrunde Fläche und brachte für die Kaffeetafel Gartentisch und die erforderliche Anzahl an Gartenstühlen hinüber. Es war jedes Mal eine kleine, sehr fröhliche Feier, die bei fortgeschrittener Zeit und einigen geistigen Getränken von Frau Borchardt dann mit Witzen und Geschichtchen in ostpreußischer Mundart unter großem Gelächter endete.
Bei mancher Gelegenheit, nicht nur an ihrem Grabstein, denke ich an sie und freue mich, dass ihr noch eine gesunde und friedvolle zweite Lebenshälfte beschieden war.

Joachim Boetticher